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Was muss sich gesetzlich verändern?

BeitragVerfasst: So 6. Nov 2022, 19:59
von aniraC
Hallo zusammen,

seit einigen Jahren beobachte ich jetzt schon das politische Geschehen, auch beruflich, rund um Barrierefreiheit usw. Bisher sehe ich nur wie Menschen über Inklusion sprechen, umgesetzt wird höchstens auf kommunaler Ebene etwas. Daher wollte ich mich selbst politisch einbringen, um zumindest mal darauf aufmerksam zu machen, dass hier seit Jahren nichts passiert und wo es eigentlich Möglichkeiten gibt etwas zu verändern. Das könnte bspw. in einem politischen Landesfachausschuss passieren, der sich "Soziales und Gesundheit" nennt. Bei dem, den ich im BLick habe, geht es leider meist nur um Gesundheit i. V. m. Pflege im Alter, ganz nach dem Motto "nur Alte können krank sein".

In unserem Kreis möchte ich mal verschiedene Punkte sammeln, an die man über den politischen Weg ran müsste. Da jeder von uns verschiedene Erfahrungen macht, würde ich mich freuen, wenn wir das mal hier in den Antworten sammeln könnten. Zu Beginn fallen mir bspw. folgende Punkte ein:
- Schwierigkeit einen blauen Behindertenparkausweis zu erhalten: Die Vorgaben müssten meines Erachtens zurückgeschraubt werden, sodass mehr Betroffene einen solchen erhalten können.
- Kostenübernahme von Medikamenten: Bei uns ist es vermutlich am häufigsten bei den Botox-Spritzen der Fall, gilt aber auch bei zick anderen Krankheiten und Medikamenten. Solange du die Medizin in der Uniklinik bekommst, ist es kostenfrei. Bei einem Arzt vor Ort muss man mit der Krankenkasse um die Kostenübernahme streiten.

Ich freue mich auf eure Ideen, Erfahrungen und Anregungen.

Liebe Grüße
Carina

Re: Was muss sich gesetzlich verändern?

BeitragVerfasst: Mo 7. Nov 2022, 14:01
von Pinguin
Hallo Carina,
da gibt's sicher viele Dinge, die noch geklärt oder geändert werden müssen.
Schwierig wird es immer, wenn mein Hausarzt in Urlaub geht (oder selbst krank wird). Rezepte für Physiotherapie müssen in anderen Praxen jedes Mal neu erklärt werden, auch hinsichtlich der Anzahl der Anwendungen, ebenso wie die dortigen Doppelanwendungen. Hier wäre die elektronische Patientenakte evtl. hilfreich.
Über das Thema orthopädische Schuhe hatten wir letzten Freitag beim Meeting bereits gesprochen. Auch dieses Thema ist nicht ohne Schwierigkeiten.
Die Beantragung eines Pflegegrades sollte auch einfacher gestaltet sein.
Inklusion: Zu wenige befassen sich mit diesem Thema. Sehr oft muss man ausdrücklich nachfragen, ob ein Restaurant bzw. Lokal, ein Museum, eine Ausstellung, ein Markt, etc. ... barrierefrei ist. Wobei barrierefrei selbstverständlich nicht immer rollstuhlgerecht ist. Leider!
Viele Grüße - Edeltraud

Re: Was muss sich gesetzlich verändern?

BeitragVerfasst: Mo 7. Nov 2022, 21:05
von Katrin
Hallo Carina,

da hast du bei mir in ein Wespennest gestochen :))

Inklusion ist ein sehr großes Thema. Es kommt auch immer auf die Sichtweise an. Junge Eltern kleiner Kinder sehen erstmal Kita und schule, am letzten Schultag endet meistens schlagartig die Inklusion. Die meisten finden sich dann wieder in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Die tragen aber eher zur Exklusion bei und sortieren behinderte Menschen aus, um der Öffentlichkeit, Achtung Sarkasmus, "den Anblick zu ersparen".
In der Ausbildung, im Studium, in der Arbeitswelt haben es Menschen mit Behinderung unnötig schwer. Das liegt aber an der Gesellschaft, weil Chefs und Betriebsräte oft nicht bereit sind, uns einzustellen und eine Chance zu geben. Da wird nur gesehen, was wir nicht können, z.B. laufen, hören, sehen.Dass wir aber unsere "Defizite" anders ausgleichen und meistens weniger Krankheitstage im Jahr haben, als nichtbehinderte Kollegen, wird nicht wahrgenommen.
In der Freizeit, im Alter werden wir nicht mitgedacht.
Mich beschäftigt schon länger der Gedanke, dass man in Alters- und Pflegeheimen nicht auf unsere Personengruppe eingestellt ist. Bis 1945 hatten wir keine Lebensberechtigung, wurden deportiert und waren Versuchskaninchen. Wer danach mit Behinderung geboren wurde, ist heute 70 bis 75 Jahre alt. Wer irgendwann in Wohngruppen oder im häuslichen Umfeld mit einer 24/7-Assisstenz nicht mehr versorgt werden kann, weil zur Grundbehinderung etwas aus Altersgründen dazu kommt, da winken die Heime ab.
Ab sofort müsste die entsprechende Ausbildung so angepasst werden, dass auch wir dort mitgedacht werden. In Heimen kennt man Demenz als geistige, kognitive Behinderung und Schlaganfall oder Parkinson als körperliche Behinderung, meistens beginnend im Rentenalter. Von Geburtsbehinderung oder verschiedenen Gendefekten hat dort niemand Ahnung. Da darf keiner kommen mit Autismus, Trisomie 21 oder Gehbehinderung mit Rollstuhl, PG 5, evtl mit Bedarf, das Essen angereicht zu bekommen, von Windeln und Sondennahrung ganz zu schweigen. Auch habe ich nicht gehört, ausser in Schwerpunkt-Pflegeheimen, dass jemand DGS beherrscht. Schlecht Sehen, Hören, Laufen sind Alterserscheinungen, gehören aber nicht in Kindheit, Jugend und mittleres Alter von Menschen, Achtung Sarkasmus.

Ich bin in Hamburg aktiv, ich gehöre zu "Die Kämpfer von Hamburg", wir kümmern uns z.B. um bessere Arbeitsbedingungen, Leichte Sprache, Inklusion und Teilhabe. Am 17.11.22 treffen wir uns mit Ulrike Kloiber, Senatskoordinatorin für Menschen mit Behinderung in Hamburg. Im Rahmen dieser Aktivität sitze ich stimmberechtigt im regionalen Inklusionsbeirat, dort ist am 15.11.22 die nächste Sitzung. Ich habe auch mal überlegt, einer Partei beizutreten, aber das ist mir zu zeitintensiv und Sitzungen sind oft erst 21 Uhr oder später zu Ende. Da ich um 4.30 Uhr aufstehe, denke ich da an mich und spare den Monatsbeitrag.

Wenn du magst, können wir uns gerne intensiver austauschen, schreib mir gerne eine PN. "Die kämpfer von Hamburg" sind auch auf Instagram zu finden und suchen aktive Verstärkung :))


Gruß, Katrin

Re: Was muss sich gesetzlich verändern?

BeitragVerfasst: Di 8. Nov 2022, 11:25
von Rudi
...........
Hallo Carina,

dein Anliegen ist sehr wichtig für uns alle; es umzusetzen wird vermutlich gute Ergebnisse bringen.

Die Antworten, die du bisher erhalten hast, kommen alle von HSP-Betroffenen, die auch bei unseren HSP-Gesprächsrunden dabei sind. Schade, dass du für dein Anliegen diese große Chance noch nicht genutzt hast. Unsere Gesprächsrunden finden alle zwei Monate statt und werden natürlich hier im Forum rechtzeitig angekündigt. Über diese Ankündigung hat dann jeder die Möglichkeit, eigene Themen vorzuschlagen. Da wäre dein Thema sicher richtig platziert gewesen. Mit den Gesprächsrunden erreichen wir es, so hat es Peter formuliert, dass Fragen und Ideen sofort eine Reaktion erhalten. Das Warten auf Antworten entfällt und die Vielzahl von unterschiedlichen Gedanken und Ideen ist für jeden Teilnehmer hoch interessant.

Du hast mit deinem Aufruf unsere Gesprächsrunde genau um einen Tag verpasst. Schade! Die nächste Runde kommt nun Anfang Januar. Mach doch dabei mit und stelle dort live den aktiven HSP'lern deine Gedanken und Ideen vor. Ich bin mir sicher, dass du davon profitieren wirst und dass die übrigen Gesprächsteilnehmer viel von deinem Anliegen aufnehmen werden.

Du wirst sicher die Ankündigung zum Informationsaustausch kennen. Die Liste der Themen, die für den
4. November vorgeschlagen wurde, ist komplett behandelt worden und zeigte einige Neuigkeiten, die von den Teilnehmern gerne übernommen werden.

Herzliche Grüße
Rudi




Re: Was muss sich gesetzlich verändern?

BeitragVerfasst: Di 8. Nov 2022, 20:04
von Katrin
Hallo Rudi,

danke für deine Antwort. Wenn wir das große vielfältige umfangreiche Thema Inklusion mal an einem Gesprächsabend aufnehmen sollten, ist das nicht in 10 Minuten erledigt. Evtl mal als Schwerpunkt-Abend oder immer mal wieder mit neuen Blickwinkeln betrachten.

Ich werde in einer weiteren Antwort an Carina noch weitere Themen bennenen, die mir noch eingefallen sind, die Liste und das Thema ist endlos.


Gruß, Katrin

Re: Was muss sich gesetzlich verändern?

BeitragVerfasst: Di 8. Nov 2022, 20:52
von Katrin
Hallo Carina,

ich hoffe, du findest und liest diese Beiträge und Antworten, das Thema Inklusion ist umfangreich und ich stecke thematisch täglich mittendrin.

Weitere Thrmen könnten z.B. sein:
Barrierefreier Wohnungsbau, warum nur eine bestimmte Anzahl der Gesamtsumme barrierefrei? Wenn jeder in einer barrierefreien Wohnung leben würde, könnten auch Menschen mit Behinderung, z.B. Rollstuhlfahrer ihren Freundes-, Bekannten-, Familienkreis problemlos besuchen und man muss nicht immer zu dem Betroffenen in die Wohnung, um sich zu treffen, man wäre flexibler.
Private Gebäude, die öffentlich zugänglich sind, müssten per Gesetz barrierefrei gebaut werden (Einkaufszentrum, Kino, Theater, Stadion, Konzerthalle etc.)
Toiletten für alle flächendeckend einrichten mit DIN Norm. Rollstuhltoiletten nach DIN Norm kennt fast jeder, aber die werden gerne mißbraucht als Abstellkammer, werden nicht sauber gehalten, weil die Gesellschaft den Eindruck hat, sie werden nicht gebraucht, weil sich davor keine Schlangen bilden. Toiletten für alle sind eine Erweiterung davon, in Hamburg gibt es 1 oder 2 entsprechende Toiletten. Man kennt von vielen Rollstuhltoiletten auch klappbare Wickeltische für Kleinkinder. Toiletten für alle stellen Hygieneliegen bereit, also einen "Wickeltisch" für größere Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Viele werden versteckt im offenen Kofferraum, auf dem dreckigen Fußboden etc versorgt, weil Inkontinenz im Alter zwischen 3 und hohem Rentenalter noch immer ein Tabuthema ist.
Schon beim Neubau von Gebäuden kann Barrierefreiheit mitgeplant werden, das ist nicht wesentlich teurer wie oft behauptet wird. Barrierefreie Gebäude von Anfang an kommen ja nicht nur Betroffenen zugute sondern hilft allen. Jeder, der mit Rollstuhl, Rollator, Kinderwagen, Einkaufstrolley unterwegs ist, weiß das zu schätzen.
Barrierefreiheit wird in den Köpfen der meisten Menschen immer mit Rollstuhlgerecht in Verbindung gesetzt, also Rampe oder fahrstuhl bei Treppen oder einzelnen Stufen. Dass aber auch ein Blindenleitsystem dazu gehört, in Behörden ein regulärer Mitarbeiter sitzt, der die DGS beherrscht, der Leichte Sprache beherrscht, wird nicht mitgedacht.
An kleinwüchsige Menschen oder Menschen mit Wahrnehmungsstörungen denkt im Supermarkt niemand. Warum muss ein Regal 2 Meter hoch sein, warum muss Musik laufen und die Kasse ständig piepsen. für einige bedeutet das Reizüberflutung, die können dann nicht ohne viel Selbstbeherrschung einkaufen gehen oder nur in Begleitung.
Bei öffentlichen Veranstaltungen, z.B. im Wahlkampf, müssen diese Veranstaltungen barrierefrei sein. Man sollte auf den Plakaten nicht nur mit Ort, Datum, Uhrzeit werben sondern auch erwähnen, dass dort z.B. ein Fahrstuhl ist, bei Bedarf ein Dolmetscher für Leichte Sprache, Dolmetscher für Gebärden und Schriftdolmetscher vor Ort sind. Dann würden die Personen auch zu Veranstaltungen kommen, die diese Unterstützung brauchen. Wahlschablonen in Blindenschrift sollten nicht erst auf Antrag angefertigt werden müssen, eine bestimmte Anzahl sollte auf Vorrat vorhanden sein.
Arztpraxen sollten per Pflicht barrierefrei sein, denn oft werden Kinder und Jugendliche nach dem 18. Geburtstag vom Kinderarzt in die Welt entlassen und finden keine passenden Praxen. Bei meiner Hausärztin sehe ich Rollatoren, selten einen Rollstuhl, aber nie Menschen mit kognitiver oder mehrfacher schwerer Behinderung. Die brauchen alle dringend Rezepte für Medikamente und fortlaufende Therapien, aber wo werden sie versorgt?

Ich könnte endlos weitere Themen nennen, aber das würde den Text sprengen ;)

Kennst du Raul Krauthausen? Er ist ein bekannter Inklusionsaktivist aus Berlin. Er hat Glasknochen, ist dadurch kleinwüchsig und auf einen E-Rolli angewiesen. Er hat schon viele Projekte gestartet, hat mehrere Podcasts, wöchentlichen Newsletter, eigenes TV-Format und bringt den Alltag zwischen Menschen mit und ohne Behinderung immer wieder sarkastisch auf den Punkt. Zu finden bei Google, Wikipedia, Twitter, Instagram und bestimmt einigem mehr.

Ich hoffe, wir treffen uns mal online, per PN oder vielleicht am Telefon.


Gruß, Katrin

Re: Was muss sich gesetzlich verändern?

BeitragVerfasst: Do 10. Nov 2022, 18:09
von aniraC
Vielen Dank für die bisherigen Rückmeldungen.

Lieber Rudi, ich muss gestehen, die HSP-Gesprächsrunden habe ich bisher absolut ignoriert. Ich war die letzten Monate einfach nicht mehr im Thema drin bzw. zu genervt von irgendwelchen Arztterminen, bei denen ich mich mit der HSP eh schon beschäftigten muss. Habe mir nun aber mal die vergangenen Themen angeschaut und bin begeistert. Vielen Dank für die Empfehlung und deine Anregung.

Liebe Katrin, vielen Dank für deine vielen Inputs. Da sind einige Themen dabei, die "der Politik" auch bekannt sind und über die massenhaft gesprochen wird, aber umgesetzt wird nichts oder zu kompliziert. Raul Krauthausen ist mir bekannt. Ich muss allerdings auch gestehen, dass ich ihm immer mal wieder entfolge, da ich öfter mal anderer Meinung bin. ;)

Barrierefreiheit ist für uns sicherlich die Voraussetzung für ein gesellschaftliches Zusammenleben und Inklusion. In den vergangenen Jahren musste ich aber lernen: was viel Geld kostet, wird geschoben. So wie das Thema Barrierefreiheit bei der DB was jetzt mehr oder weniger wieder in den Sternen steht.

Liebe Grüße
Carina